Ich lag letzte Woche hellwach im Bett. Es war bereits nach Mitternacht und mir kam auf einmal der Gedanke „irgendwann werden wie vielleicht genauso in diesem Bett liegen, nur dass wir alt sind und das Leben fast vorbei“. Vielleicht haben wir bis dahin eine Menge Leute an den Tod verloren, vielleicht liege ich bis dahin alleine in diesem Bett oder vielleicht bin ich auch selbst nicht mehr da. Ich vergesse so oft, dass unser Leben endlich ist und genauso oft fällt es mir wieder ein.
Selbst nicht mehr zu existieren, das ist einfach nicht vorstellbar. Weg sein, nichts wahrnehmen, nichts empfinden, nichts denken… Jemand anderes zu verlieren ist etwas anderes, aber jedes mal wohl etwas, auf das man sich nicht vorbereiten kann, so sehr man es auch versucht. Vielleicht wird es mit dem Alter leichter, vielleicht gewöhnt man sich an die Endlichkeit des Lebens. Vielleicht wird man nur umso trauriger, je mehr Menschen sich aus dem eigenen Leben verabschieden.
Ich kann den Gedanken, Trost in einer Religion zu finden, nachvollziehen. Es ist schön, wenn man davon überzeugt ist, dass der Verstorbene jetzt an einem besseren Ort ist. Ich muss auch oft an das Interview mit dem früheren Missionar Daniel Everett denken, der einen Amazonas-Stamm besucht hat und danach zu Atheisten wurde: „Es würde Pirahãs nie in den Sinn kommen, sich an eine übernatürliche Macht zu wenden. Sie fürchten sich auch nicht vor dem Tod. Wenn jemand stirbt, sind sie sehr traurig, akzeptieren es aber.“ Und trotzdem, sagt er, besteht dieser Stamm wohl aus den glücklichsten Menschen auf diesem Planeten.
Jeder Mensch geht anders mit dem Tod und der Trauer um. Trost findet man in den verschiedensten Sachen und wir verarbeiten einen Verlust ganz unterschiedlich und individuell. Als wir letztens in Ansgars Heimat waren, haben wir über das Trauerjahr gesprochen, das noch zu Zeiten unserer Großeltern Gang und Gäbe war. Es war die gesellschaftliche Erwartung, die Trauer den Verlust des Ehepartners durch das Tragen von Schwarzer Kleidung zu bekunden. Keine Veranstaltungen, nicht arbeiten und nicht amüsieren - das galt allerdings im Grunde nur den Frauen und wurde in der Regel von der Gesellschaft streng beobachtet.
Heute gibt es das Trauerjahr nicht mehr, zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Aber dafür wahnsinnig viele Leute, die besser wissen, wie ein anderer um seinen geliebten Menschen trauern sollte und im Zeitalter des Internets ist es umso sichtbarer. Ich habe in den letzten Monaten immer wieder Profile von Menschen entdeckt, die schon in jungen Jahren ihre Partner verloren haben und sich auf ihre Art darum bemühen, nicht aufzugeben und weiterzumachen. Und darunter die Kommentare von Usern, die beteuern, wie falsch es wäre, jetzt schon eine neue Beziehung zu führen/wieder zu arbeiten/Spaß zu haben. Es wirkt manchmal so, als hätte man die Welt in eine Zeitmaschine gesteckt und wäre wieder 100 Jahre zurück gereist – in die Zeit, in der man Trauernden vorgeschrieben hat, wie sie sich zu verhalten haben. In der man ihnen neben dem tiefen Verlust, den sie zu verarbeiten haben, auch noch jede Art von Trost und positiven Aspekten genommen hat.
Die Zeit nach dem Tod einer geliebten Person sollte keine Phase sein, in der man versucht, es allen anderen Recht zu machen und der Erwartung anderer gerecht zu werden. Man sollte keine Angst davor haben, verurteilt zu werden, weil man versucht, mit der Aufnahme von Arbeit oder Hobbys Struktur und Halt zu finden. Und man sollte kein schlechtes Gewissen haben, wenn man sein Leben wieder in die Hand nehmen will, auch wenn es für andere zu früh zu sein scheint. Der Verlust ist schon schwer genug ohne die wertenden Kommentare von Personen, die gar nichts mit der eigenen Trauer zutun haben. Du darfst dies nicht, du darfst jenes nicht – so ein Quatsch! Du darfst alles: Alles was sich gut anfühlt, was dich ein bisschen vergessen lässt, dich wieder ein bisschen zurück auf die Bahn bringt. Du darfst lachen und Spaß haben, oder es wenigstens versuchen, wenn dir danach ist.
Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn ich einen Menschen verliere, der mir nahe steht. Vielleicht bin ich wochenlang oder monatelang nicht in der Lage zu arbeiten, oder überhaupt einkaufen zu gehen. Vielleicht tippe ich auch am nächsten Tag schon ein unbekümmertes DIY runter und trinke wie jeden Morgen meinen Kaffee, weil es mich tröstet. Aber ich weiß, dass beides absolut ok ist, weil Trauer ausschließlich etwas Persönliches sein sollte und keine gesellschaftliche Pflicht. Und jedes „ist das nicht zu früh?“ kann man sich in sämtlichen Situationen bitte herzlichst sparen.
Ich hatte beim Lesen grade total Gänsehaut. Da ich leider schon sehr jung zwei geliebte Menschen in meinem Leben auf tragischste Weise verloren habe, kann ich die Zeilen gut verstehen. Diese ganze Sache ist schon derart schlimm genug, wenn man jemanden verliert, sodass es absolut unvorstellbar ist, dass andere Menschen meinen sie wüssten etwas besser. Jeder geht mit dem Verlust anders um und das ist gut so! Denn wir verarbeiten solch einen Verlust ja total unterschiedlich.
Eine Sache ist aber wohl bei den meisten ähnlich: etwa 4-7 Jahre geht es, bis man über den Verlust eines sehr geliebten Menschen einigermaßen hinwegkommt oder es einfach akzeptiert. So war es auch bei mir. Die 5 Jahre danach waren ehrlich gesagt Horror und seit solch einem Schicksalsschlag bin ich ein komplett anderer Mensch geworden.
Ich finde es jedenfalls sehr gut, dass Du dieses Thema ansprichst und stelle immer wieder fest, dass ich Deinen Blog und Deine Denkweisen einfach sehr mag!
Auch wenn ich nicht so oft kommentiere, möchte ich Dir einfach mal ein FETTES Lob aussprechen. Du nutzt Deine Reichweite für so gute Dinge und nicht nur Mode & Make-Up wie manche Kollegen.
Unbedingt weiter so liebe Jana!
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So ein toller Text! Ich freue mich jedes Mal wieder!
Es ist so wahnsinnig selten geworden, dass Blogger noch Texte schreiben und einen wirklich zum nachdenken bringen. Danke, dass du deine Meinung so offen und vor allem klar mit uns teilst!
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Wiedermal ein sehr schöner Text. Ich habe erst meine Mutter verloren und es gibt einfach nicht den perfekten Leitfaden oder sonst irgendwas das einem sagt, wie man sich zu verhalten hat, wann welche Gefühle kommen und wie das alles so ohne sie werden wird. Von meinem Umfeld habe ich zum Glück nur Verständnis und Beistand erfahren und solche Kommentare wie du sie beschreibst nicht lesen müssen. Ich habe es aber auch online nicht oft öffentlich thematisiert.
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Ein sehr guter Beitrag! Es gibt aber auch Leute, die Trauernden nicht vorhalten, dass sie doch bitte noch trauern sollten, sondern auch die, die einem vorwerfen, wenn man sich ihrer Meinung nach zu lange in Trauer befindet. Dann heißt es „das ist doch schon ein halbes Jahr her, geh doch mal wieder unter Leute“ (selber schon erlebt). Diese Einmischung ist wirklich ganz schlimm und rücksichtslos und zeugt von mangelndem Respekt.
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Bewegende Worte, die einem nahe gehen, gerade wenn man einen Menschen verloren hat, den man so sehr liebte. Vor neun Wochen verstarb meine Mutter und viele fragten mich unter Tränen, warum ich denn nicht weine, ob ich gar nicht trauere….Der Verlust ist so individuell wie der Mensch selbst. Es gibt kein richtig und falsch, nicht den richtigen Zeitpunkt für Tränen. Die Liebt bleibt und das ist alles, was zählt!
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Sehr guter Text und ich kann alle Kommentare darunter super verstehen. Als ein Mensch der viel zu viel nachdenkt und viel zu viel über Sachen die nicht eingetreten sind und so wahrscheinlich (oder hoffentlich) nicht passieren, denke ich oft darüber nach wie es wäre wenn mein Partner stirbt. Ich lebe mit ihm gemeinsam in der Großstadt, Familie auf dem Land. Wahrscheinlich würde ich am nächsten Tag schon wieder arbeiten gehen, so habe ich es bisher bei mir wichtigen Menschen auch gemacht. Jeder ist anders und ich als hochsensible Persönlichkeit schütze mich dadurch einen Todesfall nach dem Schock erst mal weg zu packen und Stück für Stück zu verarbeiten. Absolut jeder darf so Trauern wie er es muss.
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Einfach „Danke“!
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Ein wirklich sehr guter Beitrag. Ich habe leider schon meinen Vater und meine Großeltern väterlicherseits in ihren letzten Stunden begleitet und hatte auch immer dieses fragende Gefühl in mir, ob ich mich richtig/gesellschaftskonform verhalte. Meine Schwester und ich sind für die Beerdigung Kleidung einkaufen gegangen und mussten einmal lachen und haben uns total schlecht gefühlt. So ein quatsch, es geht schließlich niemanden etwas an und nur man selbst, weiß wie man sich fühlt. Es ist dieses Jahr schon 8 Jahre her und trotzdem muss ich zwischendurch noch weinen. Ich sage auch nicht mehr, dass es aufhört, aber es wird besser.
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